Die Zukunft des deutschen Sonderwegs im Lichte europäischer Plattformregulierung
von Linda Schleif und Matthias C. KettemannDieser Artikel ist Teil einer Serie zur Platform-Governance im Superwahljahr 2021.
1. Einleitung
Zwar sieht der Digital Services Act (DAS) keine ausdrückliche Regelung zum Verhältnis zu nationalen Gesetzen, wie dem NetzDG vor, beruft sich aber ausdrücklich auf das Ziel, “Unterschiede” - also unterschiedliche Regelungen - zu vermeiden (Art. 114 AEUV)[1]. Daher ist fraglich, wie weit die Sperrwirkung des Harmonisierungsrechtsakts reichen wird. Nach dem aktuellen Stand würde bei Inkrafttreten des DSA das NetzDG zumindest teilweise unanwendbar werden.[2]Mit dem am 15. Dezember 2020 von der EU-Kommission vorgestellten DSA sollen die Spielregeln für Online-Plattformen in der EU neu geregelt werden.[3] Der Entwurf wird die E-Commerce-Richtlinie aus dem Jahr 2000 ersetzen und stärkt damit die Rechte der Nutzer*innen, den europäischen Binnenmarkt und erlegt den Plattformen zusätzliche Transparenzpflichten auf.
Folglich machen sich bei den Mitgliedsstaaten, die bereits erste Schritte in Richtung Online-Plattform-Regulierung eingeleitet haben, Bedenken breit: Stehen die kürzlich erlassenen nationalen Regelungen gegen Hass im Netz (z.B. in Deutschland und in Österreich) bald vor einem Ende?
Diese Umwälzungsbewegung in der europäischen Regulierung erkennen auch die Plattformen und wittern ihre Chance am Horizont, sich von den teils strengen nationalen Pflichten zu befreien. Es stellt sich demnach die Frage, ob wir die nationalen Regelungen im Angesicht der europäischen Lösung bröckeln sehen werden oder ob sie dem Harmonisierungsdruck der Union (in Teilen) standhalten.
2. Kontext und Relevanz
Die gegenwärtige Fragmentierung des europäischen Rechts ist im Hinblick auf Online-Plattformen nicht nur unbestritten, sondern wird auch zunehmend problematisiert im Hinblick auf die immer wichtiger werdenden Risiken, die sich mit der Verbreitung von Hass und Desinformation im Internet ergeben. Die Rechtsunklarheiten führen zu Unsicherheiten in Durchsetzung und Implementierung von Regelungen. Diese Unsicherheit ist nicht nur allein der mangelnden Handlungsbereitschaft der EU geschuldet, die lange nationalen Alleingängen geduldet hat. Dies trotz Vorarbeiten: Bereits 2019 kündigte die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen in der „Agenda für Europa“ ihr Ziel der digitalen Harmonisierung zur Gewährleistung eines funktionierenden Binnenmarkts mit dem "Digital Services Act Package" an.[4]Daran anknüpfend leiten die Entwürfe des Digital Services Act, Digital Markets Act und Data Governance Act auf europäischer Ebene vor dem Hintergrund der bereits bestehenden nationalen Gesetze (NetzDG, MStV, Hass im Netz, Loi Avia) nun eine neue Ära für die Internetregulierung ein, womit die EU ihrem Ziel, eine Vorreiterrolle bei der Regulierung digitaler Plattformen und Marktplätze zu besetzen, einen Schritt näher kommt.[5]
Mit der Regulierung der Hassrede und Desinformation im Netz widmet sich die Europäische Kommission einem besonders relevanten Thema, welches gerade für Deutschland vor dem Hintergrund des Superwahljahres[6], aber auch gesamtgesellschaftlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hat.[7] Die Reichweite der Verordnung und die Relevanz der Thematik für die Mitgliedsstaaten begründen die Wichtigkeit, die Auswirkungen des europäischen Vorschlags auf die nationale Gesetzgebung zu untersuchen.
3. DSA und NetzDG
3.1. Einführung
Der Entwurf enthält erstmals konkrete Maßnahmen, Implementierungsmöglichkeiten und explizite Strafen.[8] Mit dem DSA kommt die EU der bereits lange bestehenden Notwendigkeit nach, vom nicht-interventionistischen Regulierungsmodell Abstand zu nehmen und proaktiv den Gefahren der unregulierten Online-Kommunikation entgegenzuwirken.[9]
Um einen angemessenen Ausgleich zwischen konkurrierenden Rechten im DSA zu gewährleisten, müssen nicht nur die EMRK und die EU-Charta, sondern auch die nationalen Gesetzgebungen berücksichtigt werden. Damit möglichst viele Parteien in der Gesetzeskonzeption Mitsprache haben, hat die EU vorausschauend Meinungen von verschiedenen Interessensgruppen eingeholt. An diesem Verfahren hat sich Deutschland besonders aktiv beteiligt und sich dafür eingesetzt, den mit dem NetzDG geschaffenen Standard auszudehnen.[10]
Die problematische Frage der Überschneidung ergibt sich vor allem aus den begrenzten Kompetenzen der EU bei der Regulierung von Inhalten. Das Medienrecht liegt grundsätzlich in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, weshalb die EU ihr Eingreifen mit der wirtschaftlichen Dimension des Binnenmarktes rechtfertigt. Hierbei ist nach Art. 5 Abs. 1, 3 EUV das Subsidiaritätsprinzip zu beachten, weshalb die Legitimierung zur Rechtsharmonisierung im Bereich der Medienvielfaltssicherung auf Basis der Binnenmarktkompetenzen der EU umstritten ist. Aufgrund der Uneinigkeit des supranationalen Anwendungsvorrangs im Feld der Medienregulierung in der nationalen und europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit besteht bei den Regeln der Plattformanbieter fortdauernd die Kollision von mitgliedstaatlicher Vielfaltssicherung und den Integrationsbestreben der EU.[11] Eine Vollharmonisierung im Online-Recht ohne Rücksicht auf nationale Kompetenzen würde das Verhältnis der Mitgliedsstaaten zur EU und im Besonderen das zwischen EuGH und BVerfG weiter belasten.
3.2. Grundproblematik
Das bereits vor 4 Jahren in Kraft getretene und dieses Jahr frisch novellierte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) soll die Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken verbessern und zur konsequenten Löschung illegaler Inhalte führen. Mit dieser Reaktion auf die Online-Kommunikation während des US-Wahlkampf 2016 bestehen in Deutschland strenge Fristen für die Löschung von rechtswidrigen Inhalten.[12] Die EU blickte den nationalen Ansätzen zur Regulierung der Online-Kommunikation kritisch entgegen. Allerdings hielten weder die Rechtsprechung des EuGHs noch die Reaktion der EU-Kommission auf den MStV[13], das Hass im Netz-Gesetz[14] und dessen Einwände zur NetzDG-Novelle Deutschland davon ab, weiterhin das Herkunftslandprinzip der E-Commerce-Richtlinie so zu interpretieren, dass ergänzende Regeln für international agierende Netzwerke rechtens sind.[15] Ob diese Auslegung vor dem EuGH Bestand hätte, wird von vielen Stimmen aus der Europarechtspraxis angezweifelt.[16] Mit kommendem Inkrafttreten des DSA potenziert sich dieses Problem.
So fordert die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten in ihrem Kommentar zur NetzDG-Novelle ausdrücklich auf, „(a)ngesichts der Absicht der Kommission und der laufenden Arbeiten im Hinblick auf die baldige Verabschiedung von EU-Rechtsvorschriften in diesem Bereich (…) bei der Verabschiedung nationaler Initiativen in dieser Angelegenheit, wie dem notifizierten Entwurf, Zurückhaltung zu üben.“[17]
3.3. Weiterbestehen des NetzDG?
Im Hinblick auf die Harmonisierung von Regelungen der Kommunikation Online stellt der DSA klar, dass es die einschlägigen Vorschriften für den Mediensektor, wie das Urheberrecht und die AVMD-Richtlinie, unberührt lassen soll.[18] Eine Aussage zu dem Verhältnis des DSA zu bereits existierenden nationalen Gesetzen, welche denselben Anwendungsbereich regeln, wird jedoch nicht vorgenommen - die Interaktion im Rechtsgefüge bedarf Nachschärfungen. Allerdings ist das gewählte Instrument eine Verordnung, welche Mitgliedstaaten direkt bindet. Daher ist auch der aktuell laufende Prozess der Kommentierung so bedeutsam. Zwar regeln weiterhin die Mitgliedsstaaten die Aufsicht und Implementierung, sie werden aber von einem extra hierfür bereitgestellten EU-Gremium beaufsichtigt.[19]
Der EuGH hat indes wiederholt anerkannt, dass unterschiedliche Standards zwischen den Mitgliedstaaten bei der Regulierung von Inhalten möglich sind und keinen Widerspruch zum EU-Recht darstellen, weil in diesem Bereich keine Vollharmonisierung möglich ist.[20]
Bereits seit einigen Jahren verteidigt Deutschland seine Plattformregulierung vehement gegen Vorwürfe zur Europarechtswidrigkeit.[21] Zentrale Regelungen will die Bundesregierung in den DSA “retten”[22] und fordert im endgültigen EU-Gesetz auch klargestellt zu haben, dass „nationale Regelungen in Hinblick auf die Bekämpfung von Hassrede“ erlaubt bleiben können.[23]
Das Schutzniveau ist neben den nationalen Besonderheiten in den Strafkatalogen der einzelnen Länder das Hauptargument bei der Verhandlung der Bundesregierung im Rat der Mitgliedsstaaten. Deutsche Politiker*innen und NGOs fordern Nachschärfungen[24], da sie fürchten, dass das NetzDG durch den sich überschneidenden Geltungsbereich der beiden Gesetze verdrängt wird, was nach EU-Recht bei einer Verordnung zwingend ist. In der 240 Seiten langen Stellungnahme der Regierung zum DSA Vorschlag, bemängelt die Bundesregierung neben den fehlenden Löschfristen noch bestehende Unklarheiten, wie die fehlende Thematisierung der Konvergenz von Telekommunikation, digitalen Diensten und der Audio-Video-Medienwelt und ungenügend geregelte Themen wie Fake News und Desinformation.[25] Klar ist bisher nur, dass bei der Beurteilung von illegalen Inhalten der DSA auf geltendes Unionsrecht und die nationalen Gesetze der Mitgliedstaaten verweist.[26] Welche Inhalte also unter das Strafmaß fallen, bleibt immer noch auf nationaler Ebene geregelt.
Die Gesetze haben zunächst ähnliche, aber dennoch distinktive Zielsetzungen: der DSA will den Schutz der in der Charta verankerten Grundrechte gewährleisten, während das NetzDG öffentliche Sicherheit zum Ziel hat, vgl. § 1 Abs. 3 NetzDG. Der DSA verfolgt zusätzlich eine wirtschaftliche Zielsetzung – einen funktionierenden Binnenmarkt für Vermittlungsdienste – diesen Anspruch hat das NetzDG nicht. Das Beschwerdemanagement ist in beiden Fällen zweigeteilt in ein Melde- und Abhilfeverfahren: hier geht der DSA eher von einem Einzelfallverfahren-bezogenem Ansatz mit angemessenem Zeitraum aus, während das NetzDG mit starren Löschfristen arbeitet. Die Begründungspflichten, die beim DSA auch beim Löschen durch Community-Standards existieren sind im europäischen Vorschlag stringenter, offensiverer, effektiver und klarer vorgegeben. Auch das eigene Regulierungssystem für VLOP (Art. 25ff. DSA) ist im DSA dazugekommen.
Es gibt aber auch hoffnungsvollere Perspektiven: Mehrfach wurde von deutscher Seite die Komplementarität des NetzDG und des DSA betont - sie stünden in keinem Konkurrenzverhältnis zueinander, wodurch man nach Inkrafttreten des DSA schlicht den Änderungs- und Anpassungsbedarf werde prüfen müssen.[27] Allem Anschein nach wird sich die Kommission nicht vom Herkunftslandprinzip verabschieden, welches in zahlreichen Kommentaren der EU zu nationalen Gesetzen betont und dessen Nichteinhaltung wiederholt kritisiert wird. Inwieweit die Umsetzung des DSA aber das in diesem Aspekt strengere deutsche NetzDG bedroht, ist noch ungeklärt.[28]
4. Zusammenfassung
Schon in den Erwägungsgründen zum DSA macht die Kommission klar, dass der DSA die Zersplitterung im europäischen Rechtsraum der Online-Kommunikation eindämmen soll und eine umfassende Harmonisierung – ein „level playing field“ (ErwGrd. 7) angestrebt wird. Eine zunehmende Fragmentierung würde zu einer Verschlechterung von Sicherheit und einheitlichem Schutz der Rechte der Unionsbürger führen, weshalb der DSA als einheitliche EU-Regulierung Vorrang vor nationalen Regeln haben und diese ablösen könnte.[29] Der DSA hat durch den umfassenderen Anwendungsbereich einen breiteren Regulierungseffekt und würde damit anders als das deutsche NetzDG, auch bei Messengern wie Telegram oder Plattformen wie Amazon greifen. Neben dem personellen, ist auch der sachliche Anwendungsbereich umfassender beim DSA, da das NetzDG rechtswidrige Inhalte lediglich nach dem deutschen Recht bewerten werden (kann).[30]Dass es im Entwurf vollkommen an expliziter Bezugnahme auf Systeme der Ko- oder Selbstregulierung fehlt, kann als ein Ausdruck der Unzufriedenheit der Kommission mit den Ergebnissen der bisherigen nationalen Vorschläge gesehen werden.[31] Es wird demnach davon ausgegangen, dass Doppelstrukturen aufgrund des expliziten Ziels der Vollharmonisierung ohne nationale Spielräume nicht vorhergesehen sind. Zusätzlich könnten mit dem DSA die im NetzDG noch vorhandenen Unklarheiten geschärft und Defizite ausgebessert werden, was zu einer effektiveren Strafverfolgung auf europäischer Ebene führen würde.
Die Rechtsnatur der DSA-Verordnung, also die unmittelbare Anwendbarkeit in allen Mitgliedstaaten nach Art 288. Abs 2 AEUV wird als Harmonisierungsrechtsakt für Digitale Dienste verstanden.
Maßgebliche Kriterien für den Anwendungsvorrang sind, ob die erschöpfende Regelung der Materie im Anwendungsbereich der Union liegt und ob eine Vollharmonisierung angestrebt wird. Im Falle des DSA und des NetzDG ist das Verhältnis äußerst unklar, weshalb mehrere Optionen des Rechtsverhältnisses möglich sind.
Für eine Sperrwirkung sprechen die weitergehende Zielsetzung, der umfassendere sachliche, räumliche und personelle Anwendungsbereich, die effektiveren und stringenteren Instrumente zum Grundrechtsschutz, das kommunizierte Harmonisierungsbestreben (ErwGr. 41) und die Unionsrechtswidrigkeit des NetzDG. Somit lässt sich leicht eine Tendenz erkennen, durch die das NetzDG zumindest in wesentlichen Teilen nicht anwendbar sein wird.[32] Eine einheitliche Durchsetzung erscheint jedoch unter Anbetracht der bisherigen Vollzugspraxis fraglich, da der bisherige Vorschlag viel Interpretationsspielraum zulässt.[33]
Foto: Mika Baumeister / unsplash
on broadcasting in Europe. Institute for European Law. https://emr-sb.de/wp-content/uploads/2021/06/EMR_Legal-Issue-Paper-DSA-DMA-and-Broadcasting_Summary.pdf.
https://emr-sb.de/wp-content/uploads/2021/01/Impulse-aus-dem-EMR_DMA-und-DSA.pdf.