In den digitalen Medienumgebungen enstehen immer neue Formen des Erinnerns. Das Autor*innen-Team zeigt das Instagram-Projekt "ichbinsophiescholl" als bemerkenswertes Beispiel für Social-Media-Memory.
von Daria Chepurko, Ken Phan, Kira Thiel und Hans-Ulrich Wagner
Dieser Beitrag ist der letzte von sechs Teilen des Dossiers „Sophie Scholl auf Instagram: Eine kommunikations- und geschichtswissenschaftliche Untersuchung“. Eine Literaturliste zum gesamten Dossier finden Sie hier.
Die historische Figur Sophie Scholl auf einem Instagram-Account ihre eigene Geschichte erzählen zu lassen, ist in der Tat ein „spannendes Experiment“ (Meyer 2021). Auch wenn es mit dem israelischen Account „@eva.stories“ eine Art Vorbild gab, betrat das Team von SWR und BR mit der Konzeption und Umsetzung des Projekts „@ichbinsophiescholl“ Neuland – nicht zuletzt deshalb, weil es mittels aller auf der Plattform zur Verfügung stehenden Features konsequent aus Sophies Sicht erzählt.
Entsprechend weckte das Projekt großes gesellschaftliches und mediales Interesse und wurde eingehend diskutiert. Einerseits gab es gerade zu Beginn des Projekts viel Lob für „@ichbinsophiescholl“; vor allem für den innovativen, interaktiven und emotionalen Ansatz, jungen Menschen durch Storytelling auf Social Media Geschichte näher zu bringen und gleichzeitig die Erinnerung an den Holocaust – gerade auch mit Blick auf die schwindende Zahl der Zeitzeug*innen – aufrecht zu erhalten. Andererseits stellten medienkritische Stimmen infrage, ob gerade die plattformspezifischen medialen Charakteristika von Instagram geeignet sind, Geschichte zu vermitteln. Als Gefahren werden fehlende Kontextualisierung, Entpolitisierung und Trivialisierung gesehen (vgl. Seeßlen 2021; Lelle & Uhlig 2021).
Aus kommunikations- wie aus geschichtswissenschaftlicher Sicht handelt es bei dem Projekt um einen aktuellen Testfall für „media pasts in transition“ (Kansteiner 2017) und ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Beispiel für Social-Media-Memory (vgl. Hoskins 2018; Burkhardt 2021). Denn in den sich wandelnden digitalen Medienumgebungen entstehen immer neue kommunikative Praktiken des Erinnerns, also des In-Wert-Setzens von Vergangenheit, und es gehen aktuelle identitätsbildende Prozesse einher. Methodische Ansätze zu Text-Bild-Analysen werden entwickelt (vgl. Highfield & Leaver 2016), um Fragestellungen auf der Mikro-Ebene der konkreten Praktiken, der Meso-Ebene des Aushandelns von „Erinnernswerten“ sowie auf der Makro-Ebene der (Re-)Konfiguration des erinnerungskulturellen Feldes und seines Machtgefüges anzugehen. Das „@ichbinsophiescholl“-Experiment zeigt, wie sich das erinnerungskulturelle Feld durch digitale interaktive Medien verändert und erweitert.
Titelbild zur Verfügung gestellt: Bayrischer Rundfunk (BR)
Literatur
- Burkhardt, Hannes (2021): Geschichte in den Social Media. Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram. Göttingen: V&R unipress.
- Highfield, Tim; Leaver, Tama (2016): Instagrammatics and digital methods: studying visual social media, from selfies and GIFs to memes and emoji. In: Communication Research and Practice 2,1 (2016), 47-62.
- Hoskins, Andrew (Ed.) (2018): Digital Memory Studies: Media Pasts in Transition. New York; Abingdon: Routledge.
- Kansteiner, Wulf (2018): Digital Memory Studies: Media Pasts in Transition. In: Hoskins, Andrew (Ed.) (2018): Digital Memory Studies: Media Pasts in Transition. New York; Abingdon: Routledge, 110-140.
- Lelle, Nikolas; Uhlig, Tom (2021): Entlastung und Erinnerung. In: jungle.world, 17.6.2021. [29.11.2021].
- Meyer, Leonie (2021): Widerstandsgeschichte auf Instagram: Was leistet das Projekt @ichbinsophiescholl? [Diskussion mit Suli Kurban und Charlotte Jahnz]. In: Bundeszentrale für politische Bildung, 28.6.2021. [19.11.2021].
- Seeßlen, Georg (2021): Sophies Insta-Welt. In: Der Freitag, 22.5.2021. [29.11.2021].