Donald Trump hat am Donnerstag, den 28. Mai 2020, eine Executive Order unterzeichnet, die den Schutz von sozialen Medien in den USA einschränken soll. Die Juristen Dr. Stephan Dreyer und PD Dr. Matthias C. Kettemann haben dem Science Media Center die Rechtslage und mögliche Folgen erläutert.
Twitter hat am Dienstag erstmalig zwei Tweets von Donald Trump wegen falscher Faktendarstellung als „potentiell irreführend“ markiert. Der US-Präsident reagierte mit Verärgerung und goss diese ohne Umschweife in politische Taten. Bereits zwei Tage später, am Donnerstag Ortszeit, unterzeichnete er die „Executive Order on Preventing Online Censorship“. Die Verfügung soll den Schutz von sozialen Medien vor Strafverfolgung nach Section 230 einschränken. Außerdem soll die Möglichkeit der Plattformen beschnitten werden, Inhalte zu moderieren.
Ein erster Leak der Executive Order war schon vor Unterzeichnung veröffentlicht worden. Die New York Times berichtete, dadurch könnte den Gesetzgebern die Argumentation erleichtert werden, soziale Medien würden durch das Löschen und Moderieren von Posts und Nutzern die freie Meinungsäußerung beschneiden.
Dem Science Media Center gegenüber haben die Juristen und Internetexperten Dr. Stephan Dreyer und PD Dr. Matthias C. Kettemann ihre Einschätzung der Lage abgegeben.
Dürfen Plattformen Präsidenten „zensieren“?
Kettemann: Plattformen stellen Kommunikationsräume zur Verfügung. Wer sie nutzen will, muss ich an die AGBs („terms of service“) halten. Wer gegen diese verstößt, wird gelöscht. In Deutschland hat zuletzt das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass Plattformen sich dabei an Grundrechte zu halten haben und nicht ohne Grund löschen/zensieren dürfen.Eine funktionierende Demokratie setzt den Zugang zu Informationen voraus, auch über wahlwerbende Gruppen und Personen. Dies gilt auch (oder vielleicht sogar besonders), wenn diese Überzeugungen fragwürdig sind. Twitters eigene Regeln sagen, dass, wenn ein Tweet eines „world leaders“ gegen die Twitter-Regeln verstößt, es aber im Interesse der Öffentlichkeit liegt, den Tweet auf dem Dienst zu belassen, dieser nicht gelöscht wird. Manchmal setzen sie davor einen Hinweis, der einen Kontext über den Verstoß liefert und es den Leuten erlaubt, sich durchzuklicken, wenn sie den Inhalt sehen wollen.
Was ändert sich für soziale Medien und deren Nutzer durch die Executive Order?
Kettemann: Zunächst einmal wird sich sehr wenig ändern. Der Text ist ein großes Ablenkungsmanöver. Es ist ein politischer Versuch Trumps, sich als verfolgtes Opfer der Plattformen darzustellen. Er will seine Basis damit aufheizen. Das ist Wahlkampf und nicht der ernsthafte Versuch, die Online-Kommunikationswelt fairer zu regulieren.
Die Executive Order (EO) hat einen ersten Abschnitt, in dem Trump betont, dass er immer für die Freiheit und Offenheit der Online-Kommunikation eingetreten ist und seiner Meinung nach Online-Plattformen „selektive Zensur“ durchführten. Dies sei „unamerikanisch und anti-demokratisch“. Dann folgen vier inhaltliche Abschnitte.
Dreyer: Im Kern besteht die Verfügung aus einer angeordneten gesetzlichen Interpretation: Wenn Plattformanbieter Einfluss auf die Selektion und Darstellung von nutzergenerierten Beiträgen nehmen, müssen staatliche Stellen das in Zukunft als redaktionelle Tätigkeit werten. Für derartige Maßnahmen können die Plattformen verantwortlich gemacht werden. Die Verfügung unterstellt hier, dass es sich dabei stets um einen Eingriff in die Meinungsfreiheit handele. Wenn die Anbieter aber wie bislang von einer breiten Haftungsprivilegierung bei nutzergenerierten Inhalten profitieren wollen, müssten sie solche Eingriffe unterlassen.
Eine Folge für die Plattformen wäre, dass breit diskutierte Maßnahmen gegen Hate Speech, Desinformation sowie manipulative Äußerungen und Propaganda auf diesen Plattformen nicht (mehr) attraktiv erschienen. Würden die Plattformen entsprechende Initiativen wie Fact Checking-Angebote, Auszeichnen von zweifelhaften Aussagen, Löschungen oder Downranking und so weiter nicht mehr unterstützen, wäre eine Vermehrung und verbesserte Sichtbarkeit solcher Inhalte ohne entsprechende Maßnahmen absehbar.
Kettemann: Vorauszuschicken ist: Das wichtigste Internetgesetz der Welt, Abschnitt 230 des Communications Decency Act (CDA) von 1996 („Section 230“) sieht eine Befreiung von der Haftung für Anbieter und Benutzer eines „interaktiven Computerdienstes“ vor, die von Nutzern bereitgestellte Informationen veröffentlichen. Kurz gesagt: Plattformen haften nicht für Inhalte ihrer Nutzer. Section 230(c) hat einen Abschnitt 2 (A), der festhält, dass kein Anbieter oder Benutzer eines interaktiven Computerdienstes haftbar gemacht werden kann für eine Löschung von Inhalten, „die freiwillig in gutem Glauben unternommen wird, um den Zugang zu oder die Verfügbarkeit von Material einzuschränken“, das die Plattform als „obszön ... übermäßig gewalttätig, belästigend oder anderweitig anstößig erachtet, unabhängig davon, ob dieses Material verfassungsrechtlich geschützt ist oder nicht“. Die Frage, wann eine Löschung beziehungsweise Einschränkung der Verfügbarkeit „in good faith“, also im guten Glauben, erfolgt, wird gleich wichtig.
Nun zur EO: Die Bundeskommunikationskommission (Federal Communication Commission) will eine Verordnung (regulation) vorbereiten, die klärt, wann eine Plattform nicht „im guten Glauben“ löscht und damit nicht unter die Ausnahme von Sec. 230 (c) (2) (A) des Communications Decency Act fällt und damit als Herausgeber (editor) zu betrachten wäre; und unter welchen Bedingungen es Einfluss auf Löschungen „im guten Glauben“ hat, wenn die Plattform die Nutzer nicht ausreichend anhört oder ihnen die Löschungen nicht gut genug erklärt.
Zweitens will Trump es verbieten, aus Bundesmitteln finanzierte Werbung auf Plattformen zu platzieren, die Prinzipien der Redefreiheit verletzen.
Drittens soll eine Online-Plattform eingerichtet werden, um Beispiele für „Internetzensur“ zu sammeln. Diese sollen dann dem Justizministerium und der Federal Trade Commission vorgelegt werden. Die Wettbewerbshüter sollen auch untersuchen, ob Plattformen täuschen oder unfaire Unternehmenspraktiken an den Tag legen. Viertens soll Justizminister eine Arbeitsgruppe einrichten, um die Gesetze der Bundesstaaten zu sichten, ob gegen „unlautere Praktiken“ von Online-Plattformen vorgegangen werden kann, unter anderem, weil diese wie öffentliche Räume zu behandeln seien.
Gibt es Auswirkungen für Europa?
Dreyer: Das ist nicht absehbar, weil (a) unklar ist, inwieweit sich die Plattformen dem Anreizsystem der Verfügung unterwerfen werden, (b) offen ist, inwieweit die verfügte Interpretation vor US-Gerichten Bestand haben wird, (c) den Plattformen theoretisch offensteht, die Inhalte in Europa anders auszuspielen als in den USA, und (d) dies die Frage der Umsetzung und Umsetzbarkeit von EU-Vorgaben bei Anbietern aus dem EU-Ausland betrifft. Rein materiell widerspricht die Verfügung den in Europa vorherrschenden Ansätzen im Äußerungsrecht und der restriktiveren Regulierung von schädlichen Inhalten. Verglichen mit den USA geht der EU-Rechtsrahmen von einer weiteren Einschränkbarkeit von Äußerungen aus.Kettemann: Twitter und Facebook und die anderen Plattformen wenden in den meisten europäischen Ländern schon jetzt höhere Standards an als in Amerika. Die politische Relevanz der Executive Order ist weit höher als die rechtliche. Unter Umständen könnte die Debatte Plattformen dazu motivieren, ihre inhaltsbezogenen Entscheidungen stärker zu begründen, um den „good faith“ nachzuweisen. Dies könnte auch in Europa zu mehr Begründungen führen, was nur gut wäre.
Inwiefern müssten soziale Medien in Europa ähnlich reguliert werden wie klassische Medien?
Dreyer: Wir befinden uns in Europa derzeit an einem Scheidepunkt, was die Regulierung von Social-Media-Plattformen angeht. Politisch und gesellschaftlich sind bestimmte Inhalte auf diesen Plattformen nicht erwünscht, daher appellierte man in den letzten Jahren an die Anbieterverantwortung oder schmiedete Gesetze wie das NetzDG, die inhaltliche Entscheidungen an diese Plattformen delegieren. Damit gab man diesen Plattformen aber weitreichende Entscheidungskompetenzen darüber, was aus deren Sicht in der öffentlichen Kommunikation Platz hat und was nicht. Die zuvor an die Anbieter abgetretene Entscheidungsmacht wird ihnen jetzt zum Vorwurf gemacht: Es wird zu viel gelöscht, sagen die einen. Es wird zu wenig gelöscht, sagen die anderen. Es ist unklar, auf welchen Grundlagen die Plattformen löschen oder „flaggen“, sagen wiederum andere.An dieser Stelle befinden wir uns jetzt, und die politische Diskussion bewegt sich derzeit zwischen zwei Alternativen: Wollen wir, dass der Staat wieder stärker das Zepter in die Hand nimmt und den Anbietern mit starken Gesetzen vorgibt, was rechtlich geht und was nicht? Das ginge mit einer Abkehr von den bisherigen Haftungsprivilegien der Plattformen einher. Sie wären dann deutlich früher und umfassender verantwortlich für das, was auf ihren Angeboten passiert. Oder wollen wir die Entscheidungen und die Entscheidungsverfahren auf Seiten der Plattformen stärker rechtlich vorprägen und kontrollieren, um Willkür zu verhindern und Grundrechte zu sichern?
Hier ist mit Blick auf die derzeitigen Diskussionen über die Richtung des „Digital Services Act“ auf EU-Ebene derzeit noch vieles, wenn nicht alles offen. Dahinter steckt mit Blick auf Desinformation auch die Grundsatzfrage, wer darüber entscheiden soll, was wahr und was falsch ist. Es ist ein Kampf um Deutungshoheit über gesellschaftlich geteiltes Wissen.
Gibt es weitere relevante Veränderungen in der Verfügung?
Dreyer: Der Anwendungsbereich der Verfügung ist denkbar breit und würde für alle Formen der Bereitstellung nicht-eigener Inhalte gelten, also auch für Kommentarspalten von Blogs und journalistischen Portalen sowie ausdrücklich auch für Suchmaschinen. Insbesondere mit Blick auf letztere wird klar, dass die geleakte Verfügung auch für den vermeintlichen Ergebnisbias bei Google gelten soll. Die Verfügung etabliert damit auch ein Anreizsystem für eine radikal neutrale Ergebnissortierung bei Suchmaschinen.Ein weiterer Punkt ist die in der Verfügung enthaltene Anordnung, dass keine US-Behörde mehr Werbegelder auf Plattformen ausgeben soll, die im Sinne der Verfügung redaktionelle Maßnahmen treffen. Mit Blick auf die auf Facebook, Google und Twitter entfallenden staatlichen Werbeetats ist das eine empfindliche Drohung.
Worum geht es in dieser Angelegenheit wirklich?
Kettemann: Donald Trump ist in Sorge, dass seine Corona-Politik ihm im November die Wiederwahl kostet. Also eröffnet er eine neue Front, indem er einen Feind – „die Plattformen“ – konstruiert, die „unamerikanisch“ agieren.Dennoch ist das ein Wendepunkt des Umgangs von sozialen Medien mit Inhalten von Politikern. Im Kontext der Pandemiebekämpfung haben Twitter und Co. ihre Moderationsbefugnis für Falschinformationen robuster ausgeübt. Dies ist zu begrüßen. Stärkeres Fact Checking galt auch seit längerer Zeit bei Inhalten mit Wahlbezug.
Die Tweets von Trump über die Stimmabgabe und im Zusammenhang mit der Pandemie befinden sich daher an der Schnittstelle zweier außergewöhnlicher Themen, bei denen die Plattformen stärker moderieren. Und dennoch: Lange hat Twitter Trump gewähren lassen. Noch vorige Woche hat der Präsident mehrfach Tweets abgeschickt, die eine ähnlich schwache Faktenbasis hatten. Das gilt nicht für alle. Im März entfernte Twitter Postings des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro wegen Verstoßes gegen das Verbot der Verbreitung von irreführender Informationen über COVID-19-Heilmittel.
Könnte Trumps Vorgehen ihm selbst schaden?
Kettemann: Wenn Trump versucht, Twitter zu verbieten, seine Inhalte zu „kommentieren“ (beziehungsweise faktzuchecken), dann könnte es Plattformen dazu verleiten, seine Tweets ganz zu löschen (denn das dürfen sie ja zweifellos unter dem CDA und der bestehenden Judikatur). Dann hätte er sein Blatt überreizt: Bisher wurde Trump von Twitter weit besser behandelt als andere User*innen. Seine Tweets, auch wenn sie Desinformationen enthielten, wurden nicht gelöscht. Wenn Twitter jetzt damit beginnt, hat Trump rechtlich keine Chance. In Amerika dürfen Plattformen löschen, was sie wollen. Die Grundrechte sind in Amerika nicht auf Plattformen anzuwenden.Die vollstängigen Stellungnahmen sowie die Statements weiterer Expert*innen sind in Kürze auf der Website des Science Media Center zu lesen.
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